Swetlana Alexijewitsch ist eine Menschenforscherin, ihre Bücher sind aus kleinsten Mosaiksteinchen zusammengesetzte Panoramen, und das Bild, das sie in immer wieder neuen Ansätzen wiederzugeben versucht, ist nichts weniger als das Bild der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das Bild Adams. Denn nichts interessiert Swetlana Alexijewitsch brennender als dies: Erkenntnis über die Natur des Menschen zu gewinnen und Einsicht zu erfahren in das große Rätsel: Wie viel Mensch steckt im Menschen?
Ein Jahrhundert der Katastrophen liegt hinter uns, und noch ist kein Weg, der in die Zukunft führte, in Sicht. Nach Auschwitz, Kolyma, Tschernobyl und Fukushima, können wir „nicht mehr wie Tschechows Helden glauben: In hundert Jahren wird der Mensch großartig sein! Das Leben herrlich! Diese Zukunft haben wir verloren“, schreibt Swetlana Alexijewitsch in der aktualisierten Fassung jenes Buchs, mit dem sie international bekannt geworden ist, „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“. Welchen Weg also soll Adam einschlagen? Und wo steht er heute in seiner Welt?
Dass es gerade diese Fragen sind, die Swetlana Alexijewitsch beschäftigen, ist nicht weiter verwunderlich, stammt sie doch aus einer Weltengegend, die die zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts durchleiden musste. 1948 im (damals sowjet-) ukrainischen Iwano-Frankiwsk geboren und im weißrussischen Minsk aufgewachsen, wo sie 1972 auch ihr Journalismus-Studium abschloß und bis heute (wieder) lebt, sind die von der Geschichtsschreibung weitestgehend vergessenen „Bloodlands“ (Timothy Snyder) ihre unmittelbare Heimat – jenes zwischen Deutschland und Rußland gelegene Gebiet, über das seit Jahrhunderten die Kriege hinwegrollen, von West nach Ost, von Ost nach West, in dem Hitler und Stalin binnen gezählter Jahre gemeinsam 14 Millionen Menschen ermordeten, auf das fast der gesamte radioaktive Niederschlag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl niederging.
Von hier rührt er her, Swetlana Alexijewitschs Versuch, die Untiefen des Lebens zu verstehen, die Wahrheit zu ergründen und den einzelnen, wie ein Sandkorn den Winden des Schicksals ausgesetzten Menschen um seine Antwort zu bitten auf die Frage, warum wir alldies erleben müssen. „Ich treffe auf Versionen“, sagt Swetlana Alexijewitsch, „jeder hat seine eigene Version, und daraus, aus ihrer Menge und ihren Überschneidungen entsteht ein Bild der Zeit und der Menschen, die darin lebten. (…) Einerseits erforsche ich den individuellen, konkreten Menschen, der in einer konkreten Zeit gelebt hat und von konkreten Erlebnissen erzählt, und andererseits ist es mir wichtig, in ihm den ewigen Menschen zu finden. Das zu entdecken, was der Mensch immer in sich trägt.“
Swetlana Alexijewitschs Raum ist das Territorium der früheren Sowjetunion, ihre Zeit das 20.Jahrhundert, die mit diesem Raum, dieser Zeit verbundenen Erfahrungen bringen die Fragen hervor, mit denen sie sich in ihren Büchern auseinandersetzt: Die Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs und das kurze Glück des Sieges; das mit eiserner Hand implantierte utopische Heilsversprechen und sein desaströses Scheitern; die allein aus Helden, Opfern und Henkern bestehende sowjetische Gesellschaft; der Wille, die Natur bezwingen zu wollen, und die auf den Fuß folgende Katastrophe; die Funken von Freiheit in den Jahren der Perestrojka – und die Bruchlandung im Raubtierkapitalismus, in der Wüste der geistigen Leere. Kein Wunder, dass Swetlana Alexijewitsch in ihrer weißrussischen Heimat mit Lukaschenkos Sowjet-Retro-Utopie nicht wohlgelitten ist und ihre Bücher dort nicht veröffentlicht werden können.
Swetlana Alexijewitschs literarisches Verfahren – des Chors aus Stimmen – und die ihr eigene Perspektive – der Menschenforscherin – sind von Anfang an da, von ihrem ersten, 1985 veröffentlichten Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ an, das sie in ihrer Heimat schlagartig bekanntmachen sollte. Rund eine Million Soldatinnen, viele von ihnen blutjung, haben im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft, doch vom Moment des Sieges an wurde ihnen im öffentlichen Diskurs die Stimme verwehrt und allein der „festgeschriebene männliche Kanon“ akzeptiert.
Hunderte Frauen hat Swetlana Alexijewitsch befragt, ihre Erinnerungen festgehalten und damit nicht nur eine Lücke in der Geschichtsschreibung gefüllt, sondern dem männlich geprägten Text vom Krieg die weibliche Sicht, den weiblichen Anteil hinzuaddiert: „Die Erzählungen der Frauen sind anders, sie erzählen anders. Der ‚weibliche‘ Krieg hat seine eigenen Farben und Gerüche, seine eigenen Empfindungen und seinen Raum für Gefühle. Seine eigenen Worte. Darin kommen keine Helden und keine ihrer unglaublichen Taten vor, sondern einfach Menschen, die eine unmenschliche menschliche Arbeit tun. Und in diesen Geschichten leiden nicht nur sie (die Menschen), sondern auch die Erde, die Vögel und die Bäume. Die ganze irdische Welt. (…) Männer verstecken sich hinter Fakten, der Krieg motiviert sie als Ereignis und als Kampf von Ideen, Frauen dagegen erheben sich aus Gefühlen heraus.“
Swetlana Alexijewitschs Technik rührt vom Journalismus her, ihr tiefes Interesse am Menschen, ihre besondere Nähe zum Leid vom Fokus des russisch-weißrussisch-ukrainischen Geistes. Das Material ihrer Bücher sind die Erzählungen der Menschen, mit denen sie spricht. Doch es ist ihre eigene, Swetlana Alexijewitschs Weise, das Leben zu befragen, bis die banale Oberfläche aufplatzt und sich Wesentliches offenbart. Es ist ihre Weise, nach Menschen zu suchen, die erschüttert worden sind, die „das Leiden in die eigenen Hände nehmen, es sich ganz zu eigen machen, wieder aus ihm heraustreten, etwas daraus mitnehmen“. Und den einzelnen Stimmen den Atem eines Chorwerks einzuhauchen. So auch in ihren beiden jüngsten Büchern, mit denen sie auf das Zusammentreffen zweier „globaler Explosionen“ reagierte und damit Werke schrieb, die weit über die Fragen ihrer Heimat hinausreichen und die ganze Menschheit angehen: „Zwei Katastrophen trafen zusammen: eine soziale – vor unseren Augen zerfiel die Sowjetunion, ging ein gewaltiger sozialistischer Kontinent unter, und eine kosmische – Tschernobyl.“
Um „Tschernobyl. Eine Chronik einer Zukunft“ schreiben zu können, ist Swetlana Alexijewitsch unter großem persönlichen Einsatz über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren immer wieder ins verstrahlte Gelände gefahren (und hat sich darüber die Gesundheit ruiniert). Sie hat mit Feuerwehrleuten, Soldaten, Liquidatoren, Umgesiedelten, Verstrahlten, Ärzten, Wissenschaftlern, Politikern sowie Rückkehrern gesprochen und die Katastrophe in einem Ausmaß erlebbar gemacht, dass es einem den Hals abschnürt.
Zwei Einsichten in die Natur des Menschen sind es, die sie aus den Erzählungen mitgenommen hat: „Der Mensch rettete nur sich selbst, alle anderen ließ er im Stich“, das Vieh in den Ställen, Hunde und Katzen in den Häusern, die Tiere der Wälder, er schickte Liquidationskommandos in die Zone und begrub die verseuchte Erde in sich selbst, „mitsamt allem, was darin lebte“. Und: „Der moderne Mensch will sich nicht eingestehen, daß seine Macht nicht unbegrenzt ist“, weder aus Tschernobyl hat er gelernt noch aus dem bereits schon wieder vergessenen Fukushima. Wir machen munter weiter und verstecken uns vor uns selbst, so gut es geht. Oder wie Martin Buber es an einer Stelle schrieb: „Adam versteckt sich, um nicht Rechenschaft ablegen zu müssen, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen. So versteckt sich jeder Mensch, denn jeder Mensch ist Adam und in Adams Situation.“
Auch Swetlana Alexijewitschs jüngstes Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, das Ende August bei Hanser Berlin erscheinen wird und das sie in ihrer Zeit als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD fertigstellte, ist ein Versuch, die Katastrophen des menschlichen Daseins zu begreifen (Auszüge daraus erschienen in den vergangenen Jahren bereits in Lettre International): „Wir wollten das Himmelreich auf Erden errichten“, doch anstelle des Himmelreichs hat der Mensch eine Welt erschaffen, in der „Henker und Opfer die gleichen Leute“ gewesen sind. Wie lässt sich dies mit dem Verstand erfassen: „Das Rad dreht sich, aber niemand ist schuld“?
„Secondhand-Zeit“, dieses ihr zweites Opus magnum, ist Swetlana Alexijewitschs Versuch, die spezifischen Menschheitserfahrungen herauszufiltern, die der homo sovieticus im 20. Jahrhundert gemacht hat. Und darüber hinaus eine Frage an uns alle zu richten: Welcher Weg bleibt uns heute, wenn die gelebte linke Utopie in eine Katastrophe gemündet ist, das raffgierige kapitalistische Modell uns immer schneller in einen Abgrund reißt, wir sehenden Auges unsere Umwelt zugrunderichten und um uns eine Wüste an geistiger Leere erschaffen? Wohin soll und kann Adam sich dann wenden? Denn darüber sollten wir uns nicht hinwegtäuschen: Swetlana Alexijewitsch ist es nie nur um die Menschen ihrer Heimat zu tun. Sie meint uns alle. Sie fragt nach Adam. Und nicht zuletzt dies macht sie zu einer so großen Autorin.
Bücher der Friedenspreisträgerin 2013
- "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" an (ins Deutsche übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, Berliner Taschenbuch-Verlag, 2004, 352 S., 11,90 Euro)
- "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" (1997; übersetzt von Ingeborg Kolinko, Berliner Taschenbuch-Verlag, 2006, 288 S., 9,90 Euro)
- "Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" (übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, für Ende August bei Hanser Berlin angekündigt, ca. 576 S., 27,90 Euro)
Hanser Berlin hat die Auflage des neuen Buches "Secondhand-Zeit" auf 15.000 Exemplare erhöht und bringt außerdem drei Backlist-Titel heraus: »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht« (30. September), »Zinkjungen« (Frühjahr 2014) und »Die letzten Zeugen« (Herbst 2014).