Deutsch-französisches Camp zur Meinungsfreiheit

"Die Anfeindungen bleiben nicht nur im Netz"

11. Oktober 2017
von Börsenblatt
Sie haben ein Selfie mit dem französischen Präsidenten geschossen, Journalisten interviewt und zur Messeeröffnung ein Video zum Thema Meinungsfreiheit vorgeführt: 29 Schüler aus Deutschland und Frankreich hatten sich im Juli für ein bilinguales Jugendcamp getroffen. Auf der Frankfurter Buchmesse gab es ein Wiedersehen - und eine Diskussion darüber, wie viel Mut es erfordert, für die Freiheit des Wortes zu kämpfen.

Dass unter den 2.000 Teilnehmern, die zur feierlichen Eröffnung der Buchmesse gekommen waren, auch Staatspräsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel waren, sorgte natürlich für Nervosität - sie und viele weitere prominente Gäste hatten am Dienstag Applaus für das Video gespendet, das die deutschen und französischen Schüler in ihren Sommerferien unter professioneller Anleitung produziert haben. Zu sehen sind Szenen aus dem binationalen Jugendcamp: Straßenumfragen mit der Kamera, Kamingespräche mit Autoren und vor allem Jugendliche, die das Wort ergreifen: Was bedeutet ihnen die Meinungs- oder Redefreiheit? Warum lohnt es sich, für die Meinungsfreiheit einzustehen? Was kann man tun, wenn die Freiheit des Wortes bedroht wird?

Konkretisiert wurden diese Themen in der Diskussion am Mittwoch im Azubistro: Vier Teilnehmerinnen des Camps und Schriftstellerin und PEN-Aktivistin Tanja Kinkel sprachen über Fake-News und das Vertrauen in die Medien, über Ängste, politische Krisen und die Auswirkungen von Cybermobbing und Nationalismus auf den Alltag der Jugendlichen.

Jugendlichen wird keine eigene Meinung zugestanden

"Ein Mitschüler wurde wegen einiger Äußerungen ein Opfer von Mobbing, nicht nur im Netz, sondern auch in der Klasse. Er musste die Schule wechseln", erzählt Teilnehmerin Anna Wittmann. "Die Anfeindungen bleiben ja nicht im Netz", fasst sie die Auswirkungen zusammen,´die im realen Leben weitergehen. Alle Schülerinnen wünschten sich, von Erwachsenen ernst genommen zu werden, denn informiert sind sie: über Twitter und Apps von Zeitungen, über das Radio, Zeitungen und Podcasts. Aber eine eigene Meinung wird den Jugendlichen zu Hause, von Lehrern und im gesellschaftlichen Diskurs zumeist nicht zugestanden. Doch die Schülerinnen werden von denselben Entwicklungen umgetrieben wie die Erwachsen, wie sich im Laufe der Diskussion rasch herausstellt: "Als ich mitbekommen habe, dass es in meinem engsten Freundeskreis Anhänger des Front National gibt, bin ich aufgewacht", berichtet Louise Walter aus Frankreich. Charlie Hebdo, die Inhaftierungen von Autoren und Journalisten in der Türkei - das treibt die Jugendlichen ebenso um wie die Angst vor dem Scheitern der europäischen Idee.

Auch im Freundeskreis von Pauline Lahmidi-Arnaut gibt es zunehmend nationalistische Gesinnungen, "aber die Sache ist komplizierter, man darf eine Person nicht allein nach ihren politischen Äußerungen beurteilen", glaubt Pauline. Was hilft, sei die Auseinandersetzung - auch wenn die oft schwer falle.

"Anschreien im Internet hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun"

Moderator Thomas Koch (Börsenverein) wollte wissen, ob die Schülerinnen bereits Fake-News auf den Leim gegangen sind. "Wenn mir eine Aussage im Netz komisch vorkommt, suche ich nach anderen Quellen und google das Thema", meint Hannah Helene Jamet-Lange. Perfide werde es vor allem dann, steuert Autorin Tanja Kinkel bei, wenn absichtlich seriöse "Quellen" für erfundene Inhalte angeben werden - wie im Falle der Grünen-Politikerin Claudia Roth, der in einem vermeintlichen "SZ"-Interview Sympathie für Terroristen untergejubelt wurde - alles Fake: Das Interview, erinnert Kinkel, habe es nie gegeben. "Wer heute Fake-News verbreitet, hat gute Chancen vom US-Präsidenten retweetet zu werden", bedauert Kinkel. "Dieses Anschreien im Internet hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun", betont die Autorin. Gerade in Zeiten der "gelenkten 'Volkswut' ist aktives Engagement sehr wichtig", lobt die Autorin die Schülerinnen, die sie bereits in Frankfurt auf dem Jugendcamp kennengelernt hat. Und wenn nicht geschrien wird? "Wir bewegen uns seit zehn Jahren in Echokammern", beobachtet Kinkel mit blicken auf die "sozialen" Netzwerke.

Schule ist kein Ort für Meinungsfreiheit

Trübe Aussichten? Eine ließe sich noch hinzufügen: "In der Schule wird über solche Themen nicht gesprochen", berichten die Schülerinnen unisono. "Die Lehrer wollen lieber mit ihrem Stoff durchkommen." Das Engagement für die Freiheit des Wortes, so wird deutlich, lässt sich auch nicht einfach auf Institutionen abwälzen. "Meinungsfreiheit heißt, sich zu fragen, was ich vom anderen lernen kann", sagt Anna Wittmann zu Beginn der Diskussion - und nimmt damit das Schlusswort vorweg.

Das Jugendcamp "Tu as la parole" hatte auf Einladung des Bildungswerks des Börsenvereins und des mediacampus stattgefunden. Die journalistischen Beiträge der Teilnehmer sind auch auf boersenblatt.net erschienen.