Christoph Schröder über seitengewaltige Romane

Lesezeit ist Lebenszeit

17. Juni 2016
Redaktion Börsenblatt
Müssen selbst Debütanten darum wetteifern, wer den dicksten Wälzer auf den Markt wirft? Seiten-Schinderitis ist die Pest, meint Kritiker Christoph Schröder – die Lektüre lohnt sich selten.

"Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; / In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister": So hat es Goethe geschrieben. Nun lässt sich natürlich erstens zu Recht einwenden, dass Goethe in etwa zu jedem Thema ein griffiges Zitat geliefert hat und zweitens, dass der Meister selbst auch nicht eben einer war, der sich stets kurz gefasst hat. Aber er ist tot und kann sich nicht wehren; recht hat er außerdem.
Um das klar zu sagen: Es gibt selbstverständlich gute Gründe, dicke Bücher zu schreiben. Wenn ein Schriftsteller in einem Roman mal so eben die gesamten philosophischen Grundlagen seiner Epoche ausbreitet und noch dazu die Katastrophen der kommenden Jahrzehnte vorausahnt, darf er sich dafür schon ein bisschen Platz gönnen. Liest man dann ja auch gern. Und wenn ein anderer Schriftsteller über Jahrzehnte hinweg die Chronik seiner Herkunftsstadt zusammenträgt und diese dann, kombiniert mit eigenen Erinnerungen und einem Haufen Klatsch und Tratsch garniert, als Roman komponiert, dann mögen die einen davon hellauf begeistert sein und die anderen dankend abwinken – aber niemals würde ich auf die Idee ­kommen, dass das nicht seine Berechtigung haben könnte.
Seit ein, zwei Jahren aber beschleicht mich beim Durchblättern der Verlagsvorschauen der Eindruck, dass unter den Autoren und Verlagen so eine Art Wetteifern ausgebrochen ist: ein Kampf darum, wer den dicksten Wälzer in die Schlacht werfen darf. Und auch in Bezug auf die Autoren selbst habe ich den Verdacht, dass es mittlerweile zum Selbstverständnis eines Debütanten gehört, nicht einfach nur den ersten Roman zu veröffentlichen, nein – es muss auch sofort der ganz große Wurf sein. Und der ganz große Wurf, so scheint zur Zeit die vorherrschende Meinung zu sein, ist unter 600 Seiten überhaupt nicht zu machen.
Nicht nur der Bauch, sondern auch das Buch des Deutschen an sich wird immer dicker. Schon im vergangenen Winter saß ich bei der Betrachtung der Frühjahrsankündigungen teilweise schreiend in meinem Sessel. Wer soll das alles lesen? Und vor allem: Wer will das alles lesen? Offenbar nicht wenige. Ich freue mich für all die Leser, denen der Sinn nach einem echten Schmöker steht. Die sich im Sommerurlaub mit einem 1 000-Seiter (oder der entsprechenden E-Book-Variante) an den Strand legen und die Welt um sich herum vergessen können. Ich gönne das jedem von Herzen. Für einen professionellen Leser allerdings ist diese Seiten-Schinderitis die Pest. Und sie führt auch in den meisten Fällen zu nichts. Denn, von nur sehr, sehr, sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, lohnt es sich auch nicht, den Roman eines Mittzwanzigers (meistens sind es Männer, die sich nicht zusammenreißen können) zu lesen, der in breitester Ausführlichkeit von seinem tristen Aufwachsen in der deutschen Provinz erzählt. Es gibt diese Ausnahmen, eine davon kommt aus Ostfriesland. Aber ansonsten durfte so etwas eigentlich nur Peter Kurzeck, der durfte alles, aber jetzt ist er tot.
Für alle anderen gilt der zugegebenermaßen etwas neunmalkluge Ratschlag: Die Kunst des Wegstreichens ist eine hohe Kunst. Selbst wenn es sich wahrscheinlich genau so anfühlt: Man ist als Schriftsteller nicht der einzige auf der ganzen Welt. Auch die anderen wollen gelesen werden. Lesezeit ist Lebenszeit. Und die ist kostbar.

Christoph Schröder ist freier Autor und Literaturkritiker. Er publiziert unter anderem in der "Süddeutschen Zeitung", "Zeit", "taz" und im "Tagesspiegel" und ist Sprecher der Jury für den Deutschen Buchpreis 2016